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Gewalt, die irgendwann zurückkehren wird

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Von: Bernd Müller

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Zu Gast in Gmünd vor ausverkauftem Haus bei den Zeitgesprächen: Navid Kermani (vorne links) mit GT-Redaktionsleiter Michael Länge.
Zu Gast in Gmünd vor ausverkauftem Haus bei den Zeitgesprächen: Navid Kermani (vorne links) mit GT-Redaktionsleiter Michael Länge. © ZG Kermani

"Tagebuch einer politischen Biographie": Navid Kermani, einer der bedeutendsten Intellektuellen des Landes, war zu Gast bei den Zeitgesprächen in Schwäbisch Gmünd.

Schwäbisch Gmünd. Navid Kermani könnte, wenn er wollte, eine tragende Figur sein im Dauer-Rollenspiel der Meinungen deutscher TV-Talkshows. Warum es nicht so ist und was ihn als Journalisten auszeichnet, macht dieser Abend in Gmünd deutlich: Navid Kermani war zu Gast bei den Zeitgesprächen von Kreissparkasse, Buchhandlung Osiander und Gmünder Tagespost.

Um Kermanis neues Buch „Was jetzt möglich ist. 33 politische Situationen“ geht es im Gespräch mit GT-Reaktionsleiter Michael Länge. Der Band bündelt politische Texte aus drei Jahrzehnten. „Es ist ein Tagebuch meiner politischen Biographie“, sagt Kermani. Wie viel an Weltkenntnis und Einsicht hinter diesem bescheidenen Satz steckt, das erleben die Zuhörer im ausverkauften Saal der Villa Hirzel im zwei Stunden langen Gespräch.

„Ich erinnere mich noch, wie mühsam es war, 2015 über Aleppo zu schreiben“, sagt der Autor, der als Reporter regelmäßig in Krisen- und Kriegsgebiete gereist ist, um sich sein eigenes Bild zu machen. Mühsam, weil das Interesse nicht groß war. Kermani hat von Putins Kriegen schon berichtet, als sie für die deutsche Öffentlichkeit noch weit, zu weit waren. Nicht nur aus Aleppo, der von der russischen Armee zerbombten syrischen Stadt. „Mit dem Ukraine-Krieg ist vieles bei uns angekommen, aber das hat ja eine Vorgeschichte.“

Wieso er nicht Dauerredner sein will im Talkshows-Business, erklärt Kermani en passant. „Mein Impuls hat sich mehr dazu verschoben, zu berichten, Reporter zu sein.“ Weniger dazu, Meinungen in den Diskurs zu werfen. „Ich versuche zu informieren, eine Situation einzufangen in ihrer Widersprüchlichkeit – und den Leser entscheiden zu lassen.“

„Hybris des Westens“

Zwei Monate nach Beginn des Krieges in der Ukraine war Kermani auch dort. „Meine Wahrnehmung vor Ort war differenzierter und subtiler als das meiste an Meinungen, was ich hier gelesen habe“, sagt er. Michael Länge fragt: „Trägt der Westen eine Mitschuld am Ausbruch des Krieges?“ Wenn der Verweis auf Versäumnisse bemüht werde, um die Gewalttaten der russischen Angreifer zu relativieren – davon distanziert sich Nermani klar. Aber es habe auch die „Hybris des Westens“ nach dem Ende des Kalten Kriegs gegeben. „Es ging um Absatzmärkte, es herrschte das Primat des Ökonomischen; das rächt sich irgendwann.“ In Deutschland etwa, dass man billiges Gas aus Russland wichtiger nahm, als „die vielen Warnzeichen seit Putins Amtsantritt“.

Wer Jahrzehnte lang ein genauer Beobachter ist, der sieht – diesseits des politischen Tagesgeschäfts - die langen Linien der Politik, die unsichtbare „Kette von Ursache und Wirkung“, wie es Kermani ausdrückt. Faszinierend und erschütternd zugleich ist, welche Zusammenhänge er aufzeigt, wie Fehler Jahre oder Jahrzehnte später schlimme Wirkung entfalten. Kermani schont dabei auch den Westen nicht. Zum Beispiel beim Thema Irakkrieg: „Wenn Leute sagen, wir brauchen ein internationales Strafgericht für Wladimir Putin, dann gehören auch George W. Bush und Tony Blair vor ein solches.“

"Deutsche Selbstbezogenheit"

Auf Deutschland bezogen ergeben Kermanis Texte und ihr Blick auf die komplexen Zusammenhänge eine klare Position: dass er die „Selbstbezogenheit des politischen Diskurses“ in Deutschland für fatal hält. Im Gespräch mit Michael Länge hört man immer wieder Kermanis Erstaunen heraus darüber, wie überrascht politisch Verantwortliche in Deutschland in manchen Situationen waren. „Das Desinteresse in Deutschland an Außenpolitik war beängstigend.“ Etwa in der Vorgeschichte des Herbstes 2015, als scheinbar plötzlich syrische Flüchtlinge auf der österreichischen Autobahn in Richtung deutsche Grenze unterwegs waren. Es war gar nicht so plötzlich, betont Kermani: „Die Flüchtlinge sind im Frühjahr losmarschiert. Da waren die Essensrationen der UN-Hilfe gekürzt worden, weil die Geberländer, auch Deutschland, nur sehr schleppend bezahlt haben.“

Es ist nur ein Beispiel für Engstirnigkeit und kurzfristiges Denken, die Kermani kritisiert. Es ist einer der Schlüsselsätze aus seinem Buch, den er fast wortgleich in der Villa Hirzel noch einmal sagt: „Das Buch ist ein Beleg dafür, wie realpolitisch fatal am Ende vermeintliche Realpolitik ist.“ Die Gasgeschäfte mit Putin seien das beste Beispiel dafür.

Zweifeln als Aufgabe

Kermanis Arbeiten als politischer Journalist sind ein Statement: gegen einfache Wahrheiten, gegen Schwarz-Weiß-Denken, gegen scheinbar naheliegende, pragmatische Pseudo-Lösungen. „Zu Zweifeln, das ist, was unsere Aufgabe als Intellektuelle ist.“

Im Gespräch mit Michael Länge geht es noch um sehr viel mehr als Deutschland, Russland, die Ukraine. Auch um die Europäische Union: Kermani zieht sehr in Zweifel, dass Abschottungspolitik der EU gegen Flüchtlinge funktionieren kann. „Europa wird einen Umgang finden müssen mit den gewaltigen Flüchtlingsströmen“, sagt er und fügt mit Blick auf europäische Werte bitter hinzu: „Ein Schießbefehl wäre wahrscheinlich effizient, aber dann wäre es kein Europa mehr.“

"Gewalt wirkt"

Kermanis Blick auf die Welt tut oft weh, oft hat er die Rolle und die Wirkungen von Gewalt beschrieben. Ein Satz, der die vergangenen 30 Jahre zusammenfasst, ist besonders schmerzhaft: „Gewalt wirkt. Das Modell für viele Freiheitsbewegungen war nicht der Fall der Berliner Mauer, es war Tian’anmen“ – die gewaltsame Niederschlagung der Studentenproteste 1989 in China. Doch die langfristige Wirkung von Gewalt gegen die eigene Bevölkerung sei „kaum hoch genug einzuschätzen“. „Diese Gewalt löst sich nicht einfach in Luft auf, sie erzeugt Wut und Hass, darum wird sie irgendwann zurückkehren.“

Auch zur Lage im Iran, dem Land seiner Herkunft, hat Kermani keine hoffnungsvoll-einfache Antwort: „Auf lange Sicht bin ich optimistisch – aber zugleich fürchte ich, dass es noch viele Opfer geben wird.“ Bis das jetzige Regime weg sei, werde es „noch zwei oder fünf oder zehn Jahre dauern - aber keine Generation mehr.“

Was jetzt schon zu großen Teilen zerstört ist im Iran, so beobachtet es Kermani, ist die Gläubigkeit sehr vieler  Menschen. „Es gibt kein Land, in dem Religion so verachtet wird wie im Iran - weil der Islam seit 40 Jahren als Machtmittel gebraucht wird.“ Gewalt wirkt.

Vielseitiger Schriftsteller: Navid Kermani

Navid Kermani ist 1967 in Siegen als Kind iranischer Eltern geboren worden. Schon als Schüler und Student arbeitete er als Journalist, er studierte unter anderem Orientalistik und Philosophie. Kermani lebt heute als freier Schriftsteller in Köln. Er hat Romane geschrieben, viele Texte zu Politik und Religion und ist regelmäßig als Reporter in vielen Gegenden der Welt unterwegs. Wohin seine nächste Reise geht, hat er in Gmünd bei den Zeitgesprächen erzählt: Es geht nach Äthiopien.

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