Ewige Ruhestätte für Zwangsarbeiter

Historiker Ulrich Müller forscht über das Schicksal von 16 Zwangsarbeitern aus Russland, die in einer Gemeinschaftsgrabanlage auf dem Gmünder Leonhardsfriedhof beerdigt sind.
Schwäbisch Gmünd
Nikolai Wasilew ist gerade mal 24 Jahre alt geworden. Er starb am 15. August 1944 im Gmünder Zeiselbergstollen. Beim Bau des Stollens berührte er die Starkstromleitung. Seine letzte Ruhestätte ist auf dem Gmünder Leonhardsfriedhof. Neben 15 weiteren Gräbern von Zwangsarbeitern aus Russland, die während des Zweiten Weltkrieges in Schwäbisch Gmünd Arbeitsdienst leisten mussten.
Die Gemeinschaftsgrabanlage liegt im Osten des Friedhofs. Mitarbeiter des städtischen Garten- und Friedhofsamts haben weiße Stiefmütterchen vor den Grabsteinen gepflanzt. Entsprechend der Religionszugehörigkeit der dort Begrabenen ist auf 14 Gräbern das Kreuz der Orthodoxen abgebildet, auf zwei der Halbmond der Muslime.
Über das Schicksal der hier begrabenen Menschen recherchiert Historiker Dr. Ulrich Müller aus Waldstetten, um ihnen einen Aufsatz im Gmünder Einhorn-Jahrbuch 2019 zu widmen. Bewusst jetzt, weil der Leonhardsfriedhof bei der Remstal-Gartenschau einer der Anziehungspunkte in Gmünd ist, erklärt der 77-Jährige, der sich bereits vor 30 Jahren mit dem Thema "Zwangsarbeiter nach ihrer Befreiung" beschäftigt hat.
Es sei bemerkenswert, dass die Amerikaner nur ein Gräberfeld für russische Zwangsarbeiter anlegen ließen, sagt er über das Gemeinschaftsgrabfeld. Nachweislich seien während des Zweiten Weltkrieges auch polnische, französische, holländische und ein griechischer Zwangsarbeiter in Gmünd gestorben. Doch die russische Grabanlage könnte als Geste der Amerikaner gegenüber dem sowjetischen Verbündeten gedeutet werden, meint der Historiker.
Je nach ihrer Herkunft waren Zwangsarbeiter im NS-Regime in unterschiedliche Kategorien eingeteilt. Jene aus Frankreich, Holland oder Italien stuft Ulrich Müller als "Fremdarbeiter" ein – im Gegensatz zu Zwangsarbeitern. Denn die meisten seien in den ersten Kriegsjahren angeworben worden und arbeiteten freiwillig in Deutschland, erklärt er. Sie wurden deutlich besser behandelt als Arbeiter aus Russland, die als "Untermenschen" eingestuft waren. Deutsche sollten keinen Kontakt zu ihnen haben. Russen sollten daher zunächst nur in Ausnahmefällen im Reich zum Arbeitseinsatz kommen, berichtet der Historiker. Doch die Lage in Deutschland spitzte sich im Laufe des Krieges derart zu, dass diese Ideologie hinter der Pragmatik zurückstehen musste. Ab 1942 wurden daher viele Menschen aus Russland unter Zwang nach Deutschland geholt, um hier zu arbeiten, während die deutschen Männer im Krieg waren oder gefallen sind. Die Deutschen griffen immer rücksichtloser zu Gewaltmaßnahmen, schreibt Ulrich Müller: "Es kam zu regelrechten Menschenjagden, bei denen die Leute willkürlich auf den Straßen der Städte oder in den Dörfern aufgegriffen wurden und in Massentransporten nach Deutschland gebracht wurden."
Junge Mutter erhängt sich
Wie die 16 Zwangsarbeiter nach Deutschland und nach Gmünd gelangt sind, deren Gebeine in der Gemeinschaftsgrabanlage ruhen, weiß Ulrich Müller nicht. Er fand die meisten Informationen über sie im Totenbuch des Friedhofsamts, in dem alle Beerdigungen verzeichnet sind, sowie im Sterbebuch des Standesamtes.
Es kam zu regelrechten Menschenjagden.
Auffällig ist, wie jung diese Zwangsarbeiter gestorben sind, mit 18, 19, 21 Jahren, nur zwei waren über 40. Melanja Babitsch hat sich fünf Tage vor ihrem 20. Geburtstag umgebracht. "Erhängt im Margaritenheim am 8. Januar 1944" steht im Sterbebuch. Sie hatte am 30. Dezember 1943 im Margaritenheim ein Mädchen zur Welt gebracht: Maschura. In der Meldekartei wird sie als "Pflegekind" bezeichnet. Maschura bleibt bis Ende April 1945 im Margaritenheim. Was danach mit ihr passiert ist, darüber ist nichts überliefert. Wie zu so vielem nicht. "Unser Problem ist, dass die Meldekarten nur die Daten festhalten, die uns kaum belastbare Aussagen über die Schicksale der Menschen erlauben, die zwei bis drei Jahre in der fremden und feindlichen Umgebung in Gmünd leben und schwer arbeiten mussten", erklärt der Historiker.
Wo sie zum Arbeitsdienst eingeteilt waren, ist in Meldekarten des Einwohnermeldeamts festgehalten. Insgesamt seien 1942, 1943 und 1944 bei der ZF 183 Russen beschäftigt gewesen. Die meisten von ihnen lebten in Baracken in der Richard-Bullinger-Straße. Die Leichtgusswerke Schenk in der Lorcher Straße beschäftigten 135 Russen, beschreibt Ulrich Müller, fast alle wohnten in Baracken auf dem Gelände der Firma in der Lorcher Straße. Bei Erhard und Söhne in der Weißensteiner Straße arbeiteten 116 Russen. Die meisten wohnten im Lager im Freudental 24. Neben den großen Unternehmen erwähnt der Historiker etliche kleine Betriebe, die Zwangsarbeiter beschäftigten. Zudem waren Russen als Knechte auf Bauernhöfen etwa in der Krähe oder auf dem Rehnenhof beschäftigt, genauso als Haushaltshilfen unter anderem in der Innenstadt.
Michael Korablew, der mit 53 Jahren nach einem Hirnschlag gestorben ist und seine letzte Ruhestätte in der Gemeinschaftsgrabanlage auf dem Leonhardsfriedhof hat, arbeitete in der Silberwarenfabrik Johann Beck. Genau wie seine Frau Maria und seine Söhne Viktor und Valentin, dessen Arbeitsbuch im Stadtarchiv erhalten ist. "Er dürfte der jüngste Zwangsarbeiter von Gmünd gewesen sein", vermutet Ulrich Müller. Als er in der Silberwarenfabrik anfing, war er noch nicht einmal zwölf Jahre alt.
In Erinnerung rufen
Was aus ihm geworden ist und ob er jemals das Grab seines Vaters in Gmünd besuchen konnte, weiß Ulrich Müller nicht. Sicher aber ist: Die Grabstätte zählt zu den Denkmälern, die auf Dauer erhalten bleiben sollen, sagt der Historiker, der nun einen Beitrag dazu leistet, die Geschichte der dort begrabenen Menschen in Erinnerung zu rufen.
3187 Zwangsarbeiter in Schwäbisch Gmünd gemeldet
Viele Zwangsarbeiter waren laut den Akten des Einwohnermeldeamtes während des Zweiten Weltkrieges in Schwäbisch Gmünd gemeldet: aus Russland und der Ukraine 480 Frauen und 525 Männer, aus Polen 117 Frauen und 249 Männer, aus Frankreich 574 Männer und 86 Frauen, aus Belgien 30 Frauen und 199 Männer, aus den Niederlanden 31 Frauen und 247 Männer, aus Griechenland 85 Frauen und 163 Männer, aus Italien 24 Frauen und 194 Männer, aus Lettland 55 Frauen und 34 Männer, aus Estland eine Frau, aus Litauen zwölf Frauen und vier Männer, aus Bulgarien eine Frau und ein Mann sowie aus Dänemark eine Frau. Zudem sind 22 weibliche und 52 männliche Zwangsarbeiter als Staatenlose erfasst. jul