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Eine „unheilvolle Entwicklung“

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Von: Anke Schwörer-Haag

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Dr. Navid Kermani ist in Siegen geboren und vielfach ausgezeichneter Schriftsteller.⋌
Dr. Navid Kermani ist in Siegen geboren und vielfach ausgezeichneter Schriftsteller.⋌ Foto: hpr © Hans-Peter Rzesnitzek

Der Schriftsteller und Philosoph Dr. Navid Kermani liest im Bilderhaus aus seinem Buch „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen“ und sagt Spannendes über Religion.

Gschwend

Das Buch sei der Versuch, eine untergehende Welt noch einmal aufzuschreiben. Dass jemand sie finden könne, wenn es niemand mehr weiß. Das Buch trägt den Titel: „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen“ und beantwortet Fragen nach Gott. Der es geschrieben hat, Navid Kermani, liest soeben im Bilderhaus daraus vor. Zwei Kapitel zu Beginn, eines zum Ende einer Fragerunde. Die spannende Antworten hervorbringt. Deren jede Stoff für philosophische Gespräche böte. So, wie auch jedes der drei vorgelesenen Kapitel, in denen ein Vater seiner Tochter den Glauben des Großvaters erklären - und damit weitergeben möchte. Die mystische Religiosität des Islam, die Volksfrömmigkeit, jenen Glauben, der aus der Praxis erwachse und Kindern leicht falle.

Das ist eine der Erklärungen: Die Religion sei entstanden, als die Menschen in der Natur unterwegs waren und merkten, dass sie von Unendlichkeit umgeben sind, einem Himmel, der nie aufhört, und einer Vielfalt der Formen und Farben, in der nichts sich gleich ist. Die Religion, erklärt der Vater, habe ein Staunen als Ursprung und ermögliche zugleich die Beziehung zwischen dem endlichen Menschen und dieser Unendlichkeit. Zumal jeder Einzelne als Teil der unendlichen Vielfalt auch etwas Unendliches in sich trage.

Solche Gedanken - im originalen Duktus des Denkers vorgetragen - machen Lust aufs Lesen, auf die eigene Auseinandersetzung mit Religion, die es beim Blick auf die Kulturen, die Regeln, die Menschen und die Sprachen, in großer Vielfalt auf der Erde gibt, sagt Kermani. Die sich beim Blick auf den Kern, auf die innere Seite, auf den Gehalt des Glaubens, aber einander gleichen. In seinem Buch geht es um den Islam - ein Christ werde darin aber vieles aus seiner Religion wieder erkennen.

Er beobachte die „unheilvolle Entwicklung“ mit Sorge, antwortet Navid Kermani, als es in einer Frage aus dem Publikum um die Weitergabe des Glaubens geht. Wenn heute den Kindern die Religion - und dabei besonders die religiöse Praxis - nicht mehr gelehrt werde, nehme man ihnen die Freiheit der Entscheidung. „Denn man kann nur annehmen oder ablehnen, was man kennt.“ Und es sei schwer, auf den Kern der Religion zu kommen, wenn man sie als Kind nicht erfahren habe.

Doch seine Sorge geht tiefer, denn die Gesellschaft verliere als Folge dieses „religiösen Analphabetismus“ den Zugang zu ihrer Kultur und ihrer Identität. Musik, Literatur und sogar die Politik seien geprägt von der Religion. Wer die biblischen Bezüge nicht kenne, könne sie nicht verstehen, nicht mehr einordnen, worauf sich die Bilder beziehen. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ - dieser Satz wäre ohne die Religion nicht denkmöglich gewesen, sagt Navid Kermani. Nur aus einem monotheistischen Gottesbild, das den Menschen als Abbild Gottes verstehe, lasse sich die Gleichheit aller Menschen ableiten und die Feindesliebe. Nur daraus sei es möglich gewesen, das in die Rechtssprechung zu übertragen. „Es ist also hilfreich, zu wissen, wo wir herkommen“, meint er. In einem allgemeinen Ethikunterricht Grundsätze über Werte weiterzugeben, das sei nicht das Gleiche, wie eine religiöse Bildung zu vermitteln, in der Wissen stecke und die Praxis und die Erfahrung und der Klang.

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