1. Startseite
  2. Ostalb
  3. Schwäbischer Wald
  4. Gschwend

Wann Wahlen zur Gefahr werden

Erstellt:

Von: Anke Schwörer-Haag

Kommentare

Engagiert tritt Professor Norbert Lammert im Bilderhaus für den Erhalt der Demokratie ein.
Engagiert tritt Professor Norbert Lammert im Bilderhaus für den Erhalt der Demokratie ein. Foto: hpr © Rzesnitzek

Messerscharf analysiert Professor Norbert Lammert, der ehemalige Präsident des Deutschen Bundestags den Zustand der Demokratien beim Rendezvous im Bilderhaus.

Gschwend

Die Analyse ist messerscharf, die Sprache nüchtern, die Antworten sind präzise. Obwohl das Fazit eher die Alarmglocken schrillen lässt, ist es ausgesprochen kurzweilig, diesem Referenten zu lauschen. Im restlos ausverkauften und zudem von über 60 Streaminggästen beobachteten Musikwinter-Rendezvous seziert Professor Norbert Lammert den Zustand der Demokratie hierzulande und weltweit. Klare Handlungsanweisungen inklusive.

Glanz und Elend der Demokratie lautet das Thema, das Norbert Lammert sich vorgenommen hat. Mit Zitaten von Jean-Jacques Rousseau, Friedrich dem Großen und Joe Biden umreißt er die Bandbreite des Stoffs und erinnert an die euphorisierende Welle Anfang der 1990er-Jahre, als der Mauerfall in Deutschland, der Arabische Frühling und die Entwicklungen im Osten Europas die Hoffnung erweckten, dass überall auf der Welt die Demokratie als „einzige zumutbare politische Staatsform“ sich endgültig durchgesetzt habe.

„Und heute? 30 Jahre später?“, fragt der Referent, blickt in die Runde und antwortet selbst: „Sind alle Fragen wieder auf der Tagesordnung.“ Mehr noch. Es bestehe die Gefahr einer Systemkonkurrenz zwischen den USA und China, deren Spannungen sich ökonomisch, politisch und militärisch entladen könnten.

„Die Zahl der ernst zu nehmenden Demokratien ist kleiner geworden“, sagt Norbert Lammert, findet unter 196 Staaten der Vereinten Nationen höchstens zwei Dutzend, in denen Parteien mit alternativen Konzepten um die Wählergunst werben; in denen es eine echte Gewaltenteilung gibt zwischen den Institutionen, die die Regeln bestimmen, sie durchsetzen und die Einhaltung überwachen - zwischen Legislative, Exekutive und Judikative eben. Höchstens zwei Dutzend Staaten garantierten individuelle Rechte - wie Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit - die nicht zur Disposition einer Mehrheit stünden.

Nirgends - betont der Referent nachdrücklich, nirgends sei die Demokratie ein für alle Mal gesichert. Obendrein warnt Norbert Lammert vor Selbstgefälligkeit: Deutschland habe die Demokratie nicht erfunden und sei mit seinem ersten Versuch, der Weimarer Republik, zudem kläglich gescheitert. Als Lektüre für lange Regennachmittage empfiehlt er dem Gschwender Publikum den Vergleich von Weimarer Verfassung und Grundgesetz. Letzteres postuliere, dass die Gesetze nach Maßgabe der Grundrechte formuliert werden müssten, und stelle die Würde des Menschen als unantastbaren Maßstab in den Mittelpunkt des Handelns. Noch funktioniere die Einhaltung dieser Regeln, analysiert der ehemalige Präsident des Deutschen Bundestags, unterstreicht das auch mit dem Hinweis darauf, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Geschichte in mehr als 50 Fällen Gesetze des Bundestages wieder aufgehoben habe.

„Bestechend und erschreckend“ nennt Norbert Lammert seinen zweiten Lektüretipp: „How democracy dies“ von Daniel Ziblatt und Steven Levitsky. Denn die Autoren hätten präzise herausgearbeitet, dass Demokratien nicht durch Putsch oder Bürgerkriege scheitern, sondern durch Wahlen. „Wahlen mit erstaunlich korrektem Ablauf“. Autokraten von ernüchternder Popularität hätten in deren Folge freie Hand, „an den Freiheiten herumzufummeln“, die Demokratie auszuhöhlen. Und täten dies auch.

„Demokratie ist dann am meisten gefährdet, wenn die Menschen sie für selbstverständlich halten“, zitiert der Referent aus der Abschiedsrede des US-Präsidenten Barrack Obama, die geradezu prophetisches Potenzial gehabt habe. Gefragt sei die Haltung der Menschen zu dieser Staatsform, denn „stabil ist eine Demokratie dann, wenn eine Mehrheit bereit ist, das Durchsetzen der Regeln für wichtiger zu halten, als die eigenen Interessen“, schließt der Redner.

Diese hochaktuelle Frage ist die erste: Wie bewertet Norbert Lammert die Vorgänge in Lützerath? Persönlich, sagt der Referent, hege er durchaus Sympathie für das Anliegen und den Mut, mit dem die Demonstranten auch die Folgen ihres Tuns in Kauf nähmen. „Aber wo liegt die Grenze, wenn ich einmal beginne, das System demokratischer Entscheidungsfindung für untauglich zu erklären? Bei welcher Frage darf ich die Regeln ignorieren?“ Anregungen, Engagement, Demonstrationen - all das hält Norbert Lammert für legitim, sogar für wichtig, denn die Demokratie lebe auch vom Widerspruch. Was auch Lammerts wohlüberlegte Antworten die nun folgenden Fragen unterstreichen. Ersetzt werden dürften die kritisierten Regeln aber erst dann, wenn sich für individuelle Interessen eine Mehrheit finde.

Auch interessant

Kommentare