WHO-Pandemie-Frühwarnzentrum

Warum Deutschland im Zentrum der nächsten Pandemie stehen wird

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Das Logo der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im europäischen Hauptquartier der Vereinten Nationen in Genf. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat angesichts des russischen Angriffskriegs in der Ukraine einen besseren Schutz für Krankenhäuser gefordert.
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Berlin ist aus geopolitischen Gründen – und aus finanziellen Gründen – zum Sitz des ersten Pandemiezentrums der WHO geworden.

  • Deutschland war aus politischen und technokratischen Gründen eine naheliegende Wahl für die WHO.
  • Doch es fragen sich einige, warum die WHO ihre neue Stelle für Pandemievorsorge nicht in einem Land des globalen Südens angesiedelt hat.
  • Und auch, wenn das neue Pandemiebüro den Wert der Zusammenarbeit betonen muss, so muss es sich doch auch mit Ländern auseinandersetzen, die sich weigern, Daten auszutauschen.
  • Dieser Artikel liegt erstmals in deutscher Sprache vor – zuerst veröffentlicht hatte ihn am 11. Januar 2022 das Magazin Foreign Policy.

Berlin - In der Anfangszeit der COVID-19-Pandemie wurde die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu einem Schlachtfeld globaler geopolitischer Auseinandersetzungen – insbesondere zwischen den Vereinigten Staaten und China. Am Sitz der Vereinten Nationen in Genf entzog die Trump-Regierung der WHO die Finanzierung und warf ihr vor, sie sei zu sehr auf China fixiert und untergrabe damit die Legitimität der Organisation. Indes nutzte Peking die WHO, um weltweit Einfluss zu gewinnen, indem es unter anderem für seine „Seidenstraße der Gesundheit“ warb.

Das neue ständige WHO-Pandemie-Frühwarnzentrum, das sich weniger als zwei Flugstunden entfernt in Berlin befindet, mag nicht den Anschein erwecken, als würde es die umstrittene Politik der Organisation wesentlich entlasten. Doch der Direktor des Zentrums, Chikwe Ihekweazu – ehemaliger Leiter des nigerianischen Zentrums für Seuchenkontrolle und stellvertretender Generaldirektor der WHO – ist überzeugt, dass dies der perfekte Ort für die WHO ist, um ein neues Kapitel in ihrer Geschichte aufzuschlagen. „Ich denke, dass Berlin ein interessanter Ort dafür ist, weil es die notwendige Nähe zu Genf bietet, aber auch ein bisschen Abstand“, sagte er gegenüber Foreign Policy. Das neue Zentrum, das in einer der führenden europäischen Technologiestädte eingerichtet wurde, soll mithilfe modernster Technologie und eines multidisziplinären Ansatzes Analysedaten sammeln, die zur Erkennung und Verhütung der nächsten Pandemie beitragen.

Deutschland war aus politischen und technokratischen Gründen eine naheliegende Wahl für die WHO. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob Berlins Einfluss ausreichen wird, um die größten Schwächen der Organisation zu überwinden: globale Rivalitäten, die durch den Aufstieg Chinas geschürt werden, und nationalistische Politik, die den Zugang zu zuverlässigen Informationen verhindert.

Warum Deutschland im Zentrum der nächsten Pandemie stehen wird

Die wachsende öffentliche Führungsrolle Deutschlands in der WHO entspricht seiner überragenden Rolle hinter den Kulissen. Als der damalige US-Präsident Donald Trump* im Mai 2020 ankündigte, die Finanzierung der WHO durch die USA einzustellen, füllte Deutschland schnell die Lücke und wurde in diesem Jahr der größte Geldgeber der Organisation. „Es gab eine große Diskussion über die Finanzierung der WHO, insbesondere als Präsident Trump ankündigte, seine Mitgliedschaft in der WHO aufzugeben“, so Ulrich Lechte, Vorsitzender des Unterausschusses Vereinte Nationen des Bundestages und Mitglied der Freien Demokratischen Partei. „Es war, als Deutschland mit einem Bündel von Millionen Dollar einsprang, um der WHO einen Teil des Geldes zu geben, der durch die USA fehlte ... Es wurden in Deutschland Gespräche geführt, insbesondere über die Finanzierung. Wir haben auch gesehen, dass die WHO nicht nur für die Pandemiesituation da ist, sondern auch für die Impfsituation.“

In den ersten Monaten der Pandemie konzentrierte sich die deutsche Regierung unter der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel eher auf die Wissenschaft als auf die Geopolitik, so Rafael Loss, Forscher beim European Council on Foreign Relations. „Merkels Herangehensweise war behutsam. Was den Ursprung des Coronavirus* betraf, ging sie mit China zum Beispiel eher pfleglich um“, sagt er. „Als Wissenschaftlerin verfolgte sie einen sehr rationalen Ansatz und vertraute auf die Wissenschaft, auf die Wissenschaftler. Ich glaube, das könnte einige Spannungen entschärft haben, die ansonsten den deutsch-chinesischen Beziehungen und dem Kontext der COVID-Krise geschadet hätten.“ Die Tatsache, dass Deutschland sowohl mit den Vereinigten Staaten als auch mit China* gute Beziehungen pflegt, machte es zu einer logischen Wahl für einen neuen WHO-Außenposten.

Der offensichtlichste Grund für die Wahl Berlins war jedoch rein finanzieller Natur. Das Land stellte einen Scheck in Höhe von 100 Millionen US-Dollar als Erstinvestition aus, um das Projekt zu finanzieren. Zweifelsohne gebe es eine Dynamik, bei der es um Geld geht, sagt Maike Voss, Geschäftsführerin der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit. Im Februar 2020 stellte auch Frankreich einen Scheck über 100 Millionen US-Dollar aus und erhielt einen neuen Campus der WHO-Akademie in Lyon, Frankreich. „Ich finde es sehr interessant, dass Deutschland Frankreich dafür kritisiert hat, dass es die WHO-Entscheidungsgremien umgangen hat und jetzt das Gleiche macht“, so Voss.

Corona-Pandemie: Neues WHO-Pandemie-Frühwarnzentrum in Deutschland

Nach Angaben von nahestehenden Beobachtern wurde das Abkommen auf höchster politischer Ebene in Genf und Deutschland beschlossen. „[WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus] kennt Angela Merkel* sehr gut“, sagt Detlev Ganten, ein weltweit anerkannter Experte für Molekularmedizin und pensionierter Gründer des World Health Summit. „Sie mögen sich, sie reden miteinander. Es war also, wie immer, eine Mischung aus guten Kontakten, guter Infrastruktur und natürlich dem Geld.“

Abgesehen von finanziellen Erwägungen glauben einige, dass die WHO von der einzigartigen Geschichte Berlins als geteilte Stadt profitieren wird. Dies könnte dazu beitragen, die wachsende geopolitische Kluft zwischen Ost und West zu überbrücken, meint Ganten: „Ich glaube, das liegt ein bisschen in der DNA der deutschen Geschichte und Politik. Wir verstehen die Menschen, die im östlichen Teil Deutschlands oder Europas gelebt haben, die den sozialistischen Block und den Kommunismus gekannt haben. Diese Generation ist noch am Leben, und sie hat manchmal eine andere Einstellung zur Gesellschaft und zur Politik. Das ist ein Vorteil für das Verständnis von Menschen, die in verschiedenen Regionen und politischen Systemen der Welt leben.“

Es schadet natürlich nicht, dass Deutschland eine hohe Konzentration von international anerkannten Gesundheitsexperten hat und Berlin weithin als Hotspot für Tech-Start-ups bekannt ist. Beides wird für den Erfolg des neuen Zentrums wichtig sein. „Deutschland ist ein Land der Wissenschaft und der Akademiker. Der Berufsstand der Ärzte und Professoren genießt im Allgemeinen ein hohes Ansehen“, so Ganten.

Warum hat WHO neue Stelle für Pandemievorsorge nicht in Land des globalen Südens angesiedelt?

Aber auch wenn Deutschland die Ressourcen für den Betrieb des Zentrums und den politischen Willen hat, fragen sich einige, warum die WHO ihre neue Stelle für Pandemievorsorge nicht in einem Land des globalen Südens angesiedelt hat. Aufgrund des eingeschränkten Zugangs zu Impfstoffen ist es wahrscheinlicher, dass der globale Süden in den kommenden Jahren unter den Auswirkungen von COVID-19 leiden wird. Auch im Vergleich zu anderen fortgeschrittenen Volkswirtschaften, einschließlich Deutschland, kann der globale Süden eine Erfolgsbilanz vorweisen.

„Es ist ziemlich schockierend, dass die Länder mit der höchsten Pro-Kopf-Sterblichkeitsrate diejenigen sind, die über die besten technologischen Kapazitäten und finanziellen Ressourcen verfügen, während Niedriglohnländer – wie Kambodscha, Senegal und Bhutan – die Ansteckung vor allem in den ersten zwölf Monaten eindämmen konnten“, so Sakiko Fukuda-Parr, Professorin für internationale Angelegenheiten an der New School in New York City. Sie ist der Meinung, dass die Integration von „Low-Tech“-Lösungen bei der Bewältigung künftiger Pandemien ausschlaggebend ist, und Experten aus diesen Ländern können solche Perspektiven bieten. Ihekweazu, der ursprünglich aus Nigeria stammt, stimmt dem zu.

Johanna Hanefeld, Leiterin des Zentrums für internationalen Gesundheitsschutz am Robert-Koch-Institut*, der deutschen Einrichtung zur Krankheitsüberwachung und -prävention, betont, dass der Standort des Zentrums keine Rolle spiele, da sein Auftrag global sei. „Ich denke, es ist wichtig, dass sich das Zentrum mit allen vernetzt, unabhängig davon, wo sie sich befinden“, erklärt sie. „Es ist kein Zentrum für Deutschland. Es befindet sich nur in Deutschland.“ Doch das Zentrum ist bereits eng mit zwei der größten deutschen Akteure im Gesundheitswesen verbunden: der Charité und dem Robert-Koch-Institut.

Als Direktor des neuen Pandemiezentrums sagt Ihekweazu, dass einer seiner Schwerpunkte auf der Förderung des Datenaustauschs über nationale Grenzen hinweg liegen wird. Er weiß aus erster Hand, welche Folgen es haben kann, wenn dies nicht gelingt. Ihekweazu war Teil der ersten gemeinsamen Mission der WHO und Chinas zur Erforschung des Ursprungs von COVID-19. Das WHO-Team hatte nur sehr begrenzten Zugang zu Informationen über die Frühphase der Pandemie. „Um ehrlich zu sein, konnte damals niemand ahnen, welch große Pandemie uns bevorstand“, so Ihekweazu. „Niemand konnte voraussehen, wie schlimm es werden würde. Ich kann nicht im Detail auf die Offenheit oder mangelnde Offenheit eines Landes eingehen, aber ich denke, die wichtigste Lektion für mich ist, dass man sich nicht von den Umständen des einen oder anderen Landes beeinflussen lassen sollte.“

Coronavirus: Schlüssel zur Verhinderung der nächsten Pandemie liegt nicht allein in den Händen Chinas

Die Partner des neuen Berliner Zentrums sind der Meinung, dass China nicht der einzige Schuldige ist, wenn es um den Zugang zu Daten über die Frühphase der Pandemie geht: „Das gilt nicht nur für China“, sagt Axel Pries, Dekan und Mitglied des Vorstands der Charité. „Wir hätten gerne mehr Informationen über die Ausgangslage der Pandemie, aber das hat man auch in Europa gesehen, wo die erste Reaktion auf die Pandemie darin bestand, Teile der Impfstoffproduktion für das eigene Land zu sichern, obwohl die internationale Produktion von Impfstoffen eine sehr, sehr internationale Angelegenheit ist.“ Deutschland selbst weigert sich immer noch, auf Patente für COVID-19-Impfstoffe zu verzichten.

Der Schlüssel zur Verhinderung der nächsten Pandemie liegt also nicht allein in den Händen Chinas. „Es ist schwer zu kontrollieren, ob die Gesundheitsdaten korrekt erhoben werden und ob sie nicht verzerrt sind“, so Ganten. „Wir wissen nicht, was zum Beispiel von Johns Hopkins oder von anderen Stellen kommt – wie sie die Daten erfassen. Und man muss immer skeptisch sein, was die Qualität der eigenen und der Daten aus anderen Quellen angeht.“

Für den Direktor des Zentrums besteht eine der größten Herausforderungen darin, die Vorteile der gemeinsamen Nutzung von Daten aufzuzeigen. „Viele Narrative werden von den großen Ländern dominiert, doch besteht die Welt aus fast 200 Nationen, und wir werden mit einem Land beginnen, von dem wir glauben, dass es diese Offenheit und Bereitschaft zum Austausch hat, und dann können wir den Wert dieses Prinzips demonstrieren“, so Ihekweazu.

Land, in dem eine Pandemie oder eine neue Corona-Variante ausbricht, erlebt nachteilige wirtschaftlichen Folgen

Aber natürlich gibt es auch zahlreiche Gegenbeweise, nämlich dass die gemeinsame Nutzung von Daten kurzfristig negative Folgen haben kann, zumindest in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht. Ihekweazu sprach mit Foreign Policy am 27. November 2021, wenige Tage, nachdem Südafrika die Entdeckung der Omikron-Variante bekannt gegeben hatte. Viele Länder hatten bereits Flüge gestrichen und restriktive Maßnahmen gegen Südafrika eingeleitet. Der Fall veranschaulicht, warum die Länder sich sträuben, Daten auszutauschen. Das Land, in dem eine Pandemie oder eine neue Variante ausbricht, wird immer mit nachteiligen wirtschaftlichen Folgen konfrontiert sein. „Wir haben erlebt, dass Länder einseitige Maßnahmen gegen andere Länder in Form von Einreisebeschränkungen ergriffen haben, ohne die globalen Auswirkungen zu berücksichtigen“, sagt Ihekweazu. „Denn dann könnte dieses Land beschließen ... seine Genomsequenzierungsdaten beim nächsten Mal nicht so offen zu teilen, wie es das getan hat. Was sind dann die Konsequenzen?“

Auch wenn das neue Pandemiebüro den Wert der Zusammenarbeit betonen muss, so muss es sich doch auch mit Ländern auseinandersetzen, die sich weigern, Daten auszutauschen. Hier könnte die strategische Lage Berlins ihre Grenzen haben. Auch wenn es Deutschland gelungen ist, während der Pandemie ein einigermaßen freundliches und pragmatisches Verhältnis zu China aufrechtzuerhalten, könnte sich die Haltung Deutschlands gegenüber China unter der neuen Regierung, die im Dezember 2021 ihr Amt antritt, ändern. Die neue Außenministerin des Landes, Annalena Baerbock*, die auch Co-Vorsitzende der Grünen ist, hat sich zu einer härteren Gangart gegenüber China verpflichtet. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz* hat jedoch einen Wahlkampf geführt, der auf Kontinuität in Bezug auf Merkels Politik und nicht auf radikale Veränderungen setzt.

Von Stéphanie Fillion

Stéphanie Fillion ist eine französisch-kanadische Reporterin, die sich auf auswärtige Angelegenheiten spezialisiert hat und bei den Vereinten Nationen arbeitet. Sie schreibt für PassBlue und moderiert UN-Scripted, einen Podcast über die Vereinten Nationen.

Dieser Artikel war zuerst am 11. Januar 2022 in englischer Sprache im Magazin „ForeignPolicy.com“ erschienen – im Zuge einer Kooperation steht er nun in Übersetzung auch den Lesern der IPPEN.MEDIA-Portale zur Verfügung. *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.

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