Die meisten Menschen würden aufgeben, wenn sie einen Verlust wie Izzeldin Abuelaish erlebt hätten. Er nicht. Ein Gespräch über Versöhnung, Hass und Menschlichkeit.
Gazastreifen/Berlin – Wie weiterleben, wenn man die zerfetzten Körper seiner Töchter vor sich liegen gesehen hat? Getötet, weil ein israelischer Soldat dieses Haus voller Kinder auf dem Gazastreifen fälschlicherweise für ein feindliches Zielobjekt hielt. Das fragt der Münchner Merkur von IPPEN.MEDIA zu Weihnachten den palästinensischen Arzt und Friedensaktivisten Professor Izzeldin Abuelaish.
Die Minuten während des Gaza-Krieges 2009, die sein Leben in ein davor und danach aufspalteten, hat der 67-Jährige in seinem viel beachteten Buch „Ich werde nicht hassen. Meine Töchter starben – meine Hoffnung lebt weiter“ (Langen Müller Verlag) verarbeitet. Ein Interview über Versöhnung, Weiterleben, Hass und den Frieden zwischen Völkern.
Weihnachten: Ist Versöhnung möglich? Palästinensischer Arzt über seine Botschaft des Friedens
Professor Abuelaish, Weihnachten gilt als Fest der Liebe, als Zeit der Versöhnung. Sie selbst haben während des Gaza-Krieges drei Ihrer acht Kinder verloren. Dennoch halten Sie als Friedensaktivist an dem Wert der Versöhnung fest. Was bedeutet dieses Wort für Sie?
Versöhnung bedeutet für mich, weiterzuleben. Und dafür gibt es gute Gründe. Erstens: um uns mit uns selbst zu versöhnen. Zweitens: um uns mit anderen zu versöhnen, um Dinge zu klären, die uns daran hindern, voranzukommen. Der Versöhnung sollte die Wahrheit vorausgehen. Wir müssen diskutieren, was passiert ist, damit es nicht erneut geschehen kann.
Sie distanzieren sich in Ihrem Buch explizit von dem Gefühl des Hasses. Dabei wäre das allzu verständlich, angesichts dessen, dass israelische Soldaten für den Tod Ihrer Kinder verantwortlich sind. Warum?
Weil Hass eine zerstörerische Krankheit ist, die ansteckend ist. Allzu oft lassen wir Hass und Wut an die Stelle der Versöhnung treten. Ich habe gelernt, ein Schutzschild aufzubauen, um den Hass zu überwinden. Wichtig ist, dass wir gegen die Auslöser von Hass, nämlich Gewalt, Aufwiegelung, Rassismus und Diskriminierung ankämpfen.
Sie sind in einem Geflüchteten-Camp in Palästina auf die Welt gekommen, haben als erster palästinensischer Arzt in Israel gearbeitet, ein Leben geprägt vom Nahost-Konflikt. Wie anstrengend ist es, weiterhin an Versöhnung zu glauben?
Ich erinnere mich stets an einen Satz von Albert Einstein: „Das Leben ist wie Fahrrad fahren. Um die Balance zu halten, muss man in Bewegung bleiben.“ Ich habe mein Leben, ich habe das Leben meiner Kinder und ich will nicht, von Hass geplagt, ertrinken. Meine Tochter hat mich das einst im Alter von 14 Jahren gelehrt: Hass oder Gewalt darf nicht mit Hass begegnet werden. Wenn jeder von uns auf diese negative Weise reagiert, bedeutet das, dass wir verloren sind. Es ist mir gelungen, mein Leben in etwas Positives zu verwandeln und in Bewegung zu bleiben, indem ich meine getöteten Töchter lebendig halte und diese Botschaft des Friedens in der Welt verbreite.
Muss man die Entscheidung, zu verzeihen, immer und immer wieder treffen?
Ja, natürlich. Ich muss mir selbst verzeihen und mich nicht unterkriegen lassen. Aber mein Ziel ist es, dass meine Töchter nicht vergeblich gestorben sind. Meistens versuchen die Menschen, sich der Verantwortung zu entziehen, indem sie anderen die Schuld geben und in Angst ertrinken. Wir dürfen die Angst nicht zulassen, denn wir sind selbst für uns verantwortlich.
War das für Sie nur außerhalb des Nahen Ostens möglich? Oder hätte der Hass Sie in Palästina schließlich niedergerungen?
Nein, Versöhnung ist überall möglich. Ich musste vermeiden, meinen lebenden Kindern und mir selbst Schaden zuzufügen. Dafür habe ich gesund zu sein, geistig, körperlich, spirituell und sozial. Damit dies geschehen kann, muss ich mich mit mir selbst versöhnen. Aber ja, die Wunde ist groß, die Narbe da. Ich muss stark sein, um nicht an dem, was geschehen ist, zu zerbrechen. Denn wenn man einmal Hass und seine zerstörerische Kraft zugelassen hat, ist man verloren und vergiftet.
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Versöhnung: Wie gelingt Frieden zwischen Völkern? Die Rolle von Frauen in Friedensprozessen
Versöhnung ist auch ein politischer Begriff, ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu Frieden. Wie kann das gelingen?
Frieden muss stets das Ziel sein. Wenn Sie jemanden, der im Krankenhaus liegt, fragen, was er braucht, um in Frieden zu leben, besteht der Frieden für den Patienten darin, dass er das Krankenhaus verlassen kann. Für denjenigen, der obdachlos ist, ist es, ein Zuhause zu haben, für denjenigen, der arbeitslos ist, eine Arbeit. Frieden, Freiheit und sogar Versöhnung hängen also davon ab, wer Sie sind und wo Sie sind. Ob Sie ein Mann oder eine Frau sind, ob Sie Palästinenser oder Israeli sind, in der Ukraine oder Russland leben, in Afghanistan, in Syrien oder in Kanada. Es kommt darauf an, was wir unter Frieden verstehen. Für diese Menschen ist der Frieden nicht nur ein Wort, es ist eine Lebensweise. Frieden ist also die Beziehungen zwischen uns und der Umwelt, in der wir leben.
Das ist der persönliche Frieden. Wie sieht es aber mit dem Frieden zwischen Völkern, besonders mit Blick auf Russlands Krieg in der Ukraine, aus?
Das wiederum ist der kollektive Frieden. Russlands Krieg in der Ukraine hat die ganze Welt heimgesucht. Es kann keinen Frieden geben, wenn es keinen Frieden zwischen Russland und der Ukraine gibt. Für den kollektiven Frieden gibt es bestimmte Grundvoraussetzungen. Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit für alle, sonst ist es kein Frieden. Aber Voreingenommenheit, Ungerechtigkeit, Armut, Diskriminierung sind Herausforderungen, die dafür zu überwinden sind. Wir sind alle gleich, wir wurden alle gleich geboren. Es ist die Menschlichkeit, die entscheidend ist, nicht die Farbe der Haut oder die ethnische Zugehörigkeit.
Was hindert die Menschheit, sich daran zu orientieren?
Das Problem ist, dass wir getrennt voneinander agieren, im Osten, im Westen, im Süden und im Norden. Dabei befinden wir uns doch alle in einem einzigen Dorf auf dieser Welt. Das hat uns die Corona-Pandemie gelehrt, wir waren alle betroffen. Aktuell erleben wir Inflation, steigende Preise, die Krisen stapeln sich. Wir leben in einer unsicheren Zeit, unter Angst und Stress – und wir alle sind potenzielle Opfer. Wissen Sie, was morgen passieren wird? Das weiß niemand. Deshalb ermutige ich die Menschen, sich umzuschauen, zu fragen, zu lernen, zu handeln, proaktiv zu sein und nicht darauf zu warten, dass jemand Maßnahmen ergreift.
Sie haben die Stiftung „Daughters for Life“ gegründet, die Mädchen und Frauen aus dem Nahen Osten bei der Finanzierung ihres Studiums unterstützt. Was ist die Rolle von Frauen in Friedensprozessen?
Unsere Welt ist von Männern dominiert, die Entscheidungen treffen, die Kriege führen. Wer zahlt den Preis dafür? Frauen und Kinder. Oftmals Menschen, die nicht daran beteiligt waren. Deshalb müssen wir über ebenjenen Preis des Krieges sprechen. Über das menschliche Leid, das durch die Kriege in unserer Welt verursacht wird. Nehmen wir die russische Invasion in der Ukraine. Kann jemand die geistigen, sozialen, wirtschaftlichen, die direkten und indirekten Auswirkungen auf das Leben und die Umwelt benennen? Die Wunden in den Herzen und Seelen, die niemals geheilt werden können? Der menschliche Preis ist unermesslich. Frauen wissen um diesen Preis, sie haben ihn stets zahlen müssen. Daher bin ich überzeugt, dass Frauen, sobald sie am Verhandlungstisch sitzen, einen großen Unterschied machen können.
Professor Izzeldin Abuelaish
Izzeldin Abuelaish wurde 1955 in einem Geflüchtetencamp auf dem Gazastreifen geboren. Als erster palästinensischer Arzt arbeitete er in einer israelischen Klinik. Mit seiner verstorbenen Ehefrau hat er acht Kinder. Während des Gaza-Krieges 2009 wurden drei seiner Töchter und eine seiner Nichten durch israelische Panzergranaten getötet. Mit seinen verbliebenen Kindern siedelte er nach Kanada über, wo er seitdem an der Universität in Toronto lehrt. Internationale Bekanntheit erlangte er als Friedensaktivist, der sich für die israelisch-palästinensische Versöhnung einsetzt. Abuelaish ist fünfmal für den Friedensnobelpreis nominiert worden.
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